Miteinander statt gegeneinander

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Gemeinsames Verständnis ist möglich

In unübersichtlichen Problemlagen ist für einen realitätsnahen Überblick das verfügbare Wissen verschiedenster Fachdisziplinen zu integrieren. Wie ermöglicht man Vertreter einzelner Fachgebiete, miteinander zu denken und nicht gegeneinander zu streiten?

Oft sind Vertreter verschiedenster Anspruchsgruppen an einen Tisch zu bringen und eine für alle akzeptable Problemhandhabung zu erzielen. Dabei ist bereits die gemeinsame Formulierung der eher unübersichtlichen Problemlage eine echte Hürde. Dies ist dann oft ein Anlass für eine externe
Beratung.
 

Das Hervorbringen von Resultaten des Denkens

Für ein gemeinsames, ergebnisoffenes Denken ist zunächst zu klären, wie „denken“ zu verstehen ist. Grundsätzlich geht es um einen kognitiven Vorgang. Aus inneren Vorstellungen, Erinnerungen, Erfahrungen und Begriffen wird eine Erkenntnis über externe Sachzusammenhänge geformt. Oft ist
nur das entstandene Resultat des Denkens bewusst und nicht die Operationen des Denkens, die dieses Resultat hervorbringen.

Für ein gemeinsames Verständnis sind die Operationen des Denkens in den Fokus zu stellen: Wenn die Beteiligten ihr jeweiliges Vorgehen beim Denken den anderen mitteilen, dann werden alle bei korrekter Anwendung dieses Vorgehens zu sehr ähnlichen Denkergebnissen bzw. Erkenntnissen
kommen.

Eigenes Denken darlegen und fremdes Denken erkunden

Dann können Vertreter verschiedenster Fachdisziplinen oder Anspruchsgruppen ihr eigenes Denken darlegen und fremdes Denken erkunden. Aus einer ansonsten nahezu unweigerlichen Auseinandersetzung um Denkergebnisse (z. B. Meinungen und Erkenntnisse) wird ein Ringen um eine gemeinsame Form des Denkens.

In meinen Beratungen erkunde ich das Denken, mit denen die Prozessbeteiligten „das Problem“ in ihrem Bewusstsein hervorbringen, von anderem unterscheiden und es als diesen wirksamen Unterschied reproduzieren. Genau hierfür bietet sich die Notation des Formkalküls von George Spencer-Brown [4] [3] an. Mit ihr sind Unterscheidungen beschreibbar, die Beobachter treffen und dadurch Zustände bezeichnen, die sie von anderem unterscheiden. Es geht also um Formen des Denkens.

Die Notation der Form (des Denkens)

Die mit dem Formkalkül von George Spencer-Brown notierten Formen haben keinesfalls eine Materie, Information, Energie oder Substanz! Sie beschreibt die Grundoperation des Unterscheidens, die Beobachter treffen, um Zustände zu bezeichnen und von anderem zu unterscheiden.

Um zu einer gemeinsamen Form des Denkens zu gelangen notiere in meinen Beratungen die Antwort auf folgende Frage: „Wie schaffen Sie es‚ das Problem so zu sehen und nicht anders?“ Das Arbeiten bzw. Notieren der Formen des Denkens beherbergt eine Schatzkiste für das gemeinsame Verstehen einer Problemstellung.

Oft wird das Problem darin gesehen, dass in bestimmten (ökonomischen, sozialen, ökologischen, politischen oder familiären) Umfeld ein erwarteter Nutzen (oder"Beitrag zum Ganzen") mit wachsender Wahrscheinlichkeit als "gefährdet" eingestuft wird. Dafür werden bedeutsame Faktoren genannt und mit Messgrößen konkretisiert. Messgrößen und Faktoren liegen auf verschiedenen Abstraktionsebenen und verweisen aufeinander. Anhand von beiden wird ein Nutzen für ein bestimmtes Umfeld ermittelt.

Dies wird in der dazugehörigen Notation mit dem Formkalkül so dargestellt:

Von rechts nach links sind die Komponenten zunehmend bestimmt und von links nach rechts zunehmend unbestimmt. Daher sind die Messgrößen links neben dem Gleichheitszeichen platziert und das Umfeld ganz rechts.

Das Entbergen von Wirklichkeit

Die gemeinsame Notation von Denkformen ermöglicht Vertretern verschiedener Fachgebiete, Interessen oder Anspruchsgruppen, miteinander zu denken. In meinen Beratungen erlebe ich immer wieder, wie aus einer anfänglich spannungsgeladenen Unübersichtlichkeit der Problemlage allmählich ein Entbergen im Sinne von Heidegger passiert, das Erkenntnis hervorbringt und eine von allen Beteiligten geteilte Wahrheit generiert [1].

Es werden phänomenologische [2] Erfahrungen gemacht, die sich kaum bis gar nicht in bisherige Vorstellungen einfügen oder aus ihnen ableiten lassen. Das irritiert die Beteiligten zunächst. Es verändert ihr Verständnis der Problemsituation und ihre Bedeutung grundlegend. 

Gemeinsames Verständnis erreichen

Die Arbeit mit den Formen des Denkens macht den Beteiligten die Operationen des Denkens zugänglich. Statt auf einzelne Resultate des Denkens aufzubauen, wird der Vollzug des Denkens zur
Grundlage der Problemhandhabung. Auf dieser Basis gelingt eine gemeinsame Formulierung der unübersichtlichen Problemlage. Und es erleichtert damit die Herleitung einer für alle akzeptablen Problemlösung.

 

Zusammenfassung

Gemeinsames Denken verlangt eine Abkehr von den Meinungen, Standpunkten und Erkenntnissen. Sie sind Resultate des Denkens, die von Denkvorgängen hervorgebracht werden. Gemeinsames Verstehen verlangt, eigenes Denken darzulegen und fremdes Denken zu erkunden. Das Formkalkül von Spencer-Brown ist dabei hilfreich.


Quellen:

[1]  Heidegger, M. (1943): Vom Wesen der Wahrheit. Frankfurt a. M.: Klostermann

[2]  Heidegger, M. (1927): Sein und Zeit. (Erste Hälfte); in: Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung, Band 8, 1927, S. 35

[3]  Schönwälder-Kuntze, T./Wille, K./Hölscher, Th. (2009): George Spencer Brown. Eine Einführung in die “Laws of Form”, 2., überarb. Aufl., Wiesbaden: VS Verlag

[4]  Spencer-Brown, G. (1969): Laws of Form, London: Allen & Unwin.


Corona und die digitale Transformation

Corona-Shutdown ist, wenn das Tempo der digitalen Transformation Fahrt aufnimmt und home office sowie Kollaborationstools im alltäglichen Leben stark an Bedeutung gewinnen. Doch das sehen viele nicht.

Der flüchtige Blick auf die Oberfläche

Für viele bedeutet Corona-Shutdown lediglich, dass die Bewegungsfreiheit und die Freiheit zu Sozialkontakten staatlicherseits extrem eingeschränkt ist und niemand weiß, wie lange das anhalten wird. Das gesellschaftliche und das wirtschaftliche Leben verlieren an Dynamik und Schnelllebigkeit. Es kommt zu Verlusten an Wohlbefinden und an Wohlstand. Doch das ist nur die Oberfläche. Darunter ereignen sich Entwicklungen, die in der digitalen Transformation ihren gemeinsamen Nenner haben. Davon zeugt auch der aktuelle Entwurf des EU-Rates zur Gestaltung der digitalen Zukunft Europas. In ihm heißt es u. a. , dass Bereiche wie „e-Health, digitale Bildung, e-Government, Datenaustausch und Breitbandkonnektivität“ eine besondere Aufmerksamkeit erhalten sollten.

Soziale Interaktion im Wandel

Das Corona-Virus kann bislang nur dadurch eingedämmt werden, dass einige bisher in der Gesellschaft akzeptierte Verhaltensmuster für bislang unbestimmte Zeit geändert werden. Wir haben also unsere gewohnten persönlichen Interaktionen als Gesellschaft zu verändern. Das gilt auch für den Bildungsbereich, der auf lokaler, regionaler und globaler Ebene bislang stark auf persönlichen Beziehungen aufbaut.

Auch akademische Hochschulen haben zu überlegen, wie sie die Art und Weise, in der Lehrende, Lernende und Administrierende miteinander interagieren und zusammenarbeiten können (wollen). Dabei wird die Anwendung moderner Technologien im Vordergrund stehen. Das allein wird die Pandemie nicht beenden können. Vielmehr hilft es den beteiligten Personen und den Institutionen, sich auf die veränderten Rahmenbedingungen einzustellen.

Ein beispielhafter Blick unter die Oberfläche

Akademische Hochschulen sind massiv vom Corona-Shutdown betroffen. Für Österreich gilt gemäß dem Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Forschung (1), dass an Hochschulen der Lehrbetrieb noch längere Zeit geschlossen und der Forschungsbetrieb aufrecht erhalten bleibt. Demgemäß haben die Hochschulen zwischen dem 9. und dem 16. März ihren Lehrbetrieb auf Distance Learning/Teaching umgestellt und anstehende Prüfungen an bestehende digitale Rahmenbedingungen angepasst.

Was so leicht und locker zu lesen ist, hat es in sich: Schon Aristoteles wusste, dass das Ganze etwas grundsätzlich anderes ist als die Summe seiner Teile. Angewandt auf Distance Learning bedeutet dies: Distance Learning ist etwas grundlegend anderes als die Summe der Komponenten, die für mobile Learning nötig sind. Es sind gerade die unterschiedlichsten Beziehungen zwischen den nötigen Komponenten, die das Neuartige des Distance Learning ausmachen. Fast alle dieser Beziehungen stehen in einem Zusammenhang mit der das gesellschaftliche Zusammenleben grundlegend verändernden digitalen Transformation. Sie verändert jetzt den Wirkungskreis eines Hochschullehrers in einem bislang nicht gekannten Tempo.

Digitale Veränderungen in der (Aus)Bildung

Während Bildung eher zweckfrei verstanden wird, ist Ausbildung eher auf mehr oder minder konkreten Nutzerwartungen bezogen. Bei beiden geht es um ein curricular gesteuertes Lernen mit kanonischen Inhalten und didaktische Formen. Es geht letztlich darum, hinterher etwas zu kennen und zu können, wozu man vorher nicht in der Lage war. Der zentrale Referenzpunkt von Bildung ist letztlich die individuelle Teilhabe an der Gesellschaft. Dem gegenüber ist der zentrale Referenzpunkt von Ausbildung letztlich die berufliche Verwertbarkeit.

Akademische Hochschulen sollen beides im Blick halten, indem sie in der Regel mit promoviertem Personal Lehre und Forschung auf wissenschaftlicher Grundlage mit anwendungsorientiertem Schwerpunkt anbieten.

Akademische Lehrangebote und die diesbezüglichen administrativen Abstimmungen erfolgen in der Corona-Krise fast ausschließlich über eine medienvermittelte, intensive, befristete Zusammenarbeit in übergreifenden Teams [2]. Für Studierende, Lehrende und Administrierende geht es verstärkt darum, Problemstellungen zu erfassen, mit digitalen Mitteln dafür kontextsensitive digitale Lösungen zu konzipieren und diese in konkrete Maßnahmen umzusetzen [3]. Die Fähigkeiten des souveränen Umgangs mit Möglichkeiten und Grenzen von digitalen Medien in verschiedenen (medienvermittelten) Kontexten [7] bekommt die Bedeutung einer zentralen Kompetenz. Das Ansehen einer Person oder einer Organisation wird aktuell maßgeblich gespeist von ihrer Reputation in sozialen Netzwerken und den im Internet über sie zugänglichen Informationen [8].

Absehbare Entwicklungslinien

Es steht zu erwarten, dass im postcorona Zeitalter auch in Hochschulen die Nutzung bzw. die Bereitstellung von Gemeinschaftsräumen mit temporären (gemieteten?), mit digitalen Medien ausgestatteten Arbeitsplätzen zunehmen wird. Sie werden für Hochschullehrer und externe Dozenten als Ort der Begegnung, des miteinander Arbeitens sowie des Teilens von Wissen und Erfahrungen erlebt werden [4]. Das Zusammenwirken von digitalen und analogen Realitäten wird verstärkt zu medienvermittelten sozialen Prozessen führen [5] und einen verstärkten öffentlichen Zugang zur Wissensproduktion sowie der dazu genutzten Informationsquellen und Ergebnissen mit sich bringen [9].

Was bedeuten diese Entwicklungslinien für die akademische Lehre, die ein Hochschullehrer herzuleiten, abzuhalten und abzuprüfen hat? Einerseits ist ein einseitiger Fokus auf die analog erlebte Realität bei Unkenntnis oder Missachtung der digitalen (sozialen) Medien mit ihren Möglichkeiten und Grenzen [1] keinesfalls nützlich, denn damit würde das Reservoir an Wissensquellen unnötig eingeschränkt. Andererseits ist einem Verfall mentaler und sozialer Kompetenzen durch übermäßige Nutzung digitaler Medien zu vermeiden, da ansonsten Wissen weniger gut erworben/behalten und alltägliche Verhaltensmuster nicht mehr angewandt werden würden [6].

Der Weg in die Zukunft

Der robuste Weg in die Zukunft des akademischen Lehrbetriebs führt zwischen analoger Ignoranz [1] und digitaler Demenz [6]. Hochschullehrern, Studierenden und Administrierenden wird wohl ein erhöhtes Maß an Selbstdisziplin und Durchhaltevermögen abverlangt werden. Selbstdisziplin wird z. B. benötigt für die bewusstere Konzentration auf den jeweiligen Arbeitsmodus (digital oder analog). Durchhaltevermögen wird benötigt, um z. B. Irritationen und Herausforderungen der digitalen und der analogen Welt zu meistern und so in der digital-analogen Realität [5] zu bestehen.

Auch wenn es viele sehen (wollen): Das Tempo der digitalen Transformation hat Fahrt aufgenommen. Home office ist allgemein akzeptiert. Kommunikations- und Kollaborationstools sind aus dem alltäglichen Leben kaum noch wegzudenken. Die Bewegungsfreiheit und die Freiheit zu Sozialkontakten werden irgendwann nicht mehr eingeschränkt sein. Wohlbefinden und an Wohlstand werden wieder steigen. Aber ein Zurück zur Vor-Corona-Zeit wird nicht mehr gelingen Ein weiter so wie bisher wird unmöglich bleiben.

Für die weitere Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und am beruflichen Gelderwerb werden wir für unser eigenverantwortliches Tun keinesfalls nur veränderte kognitive Fähigkeiten benötigen. Nötig ist immer mehr die Fähigkeit zu Selbstreflexion und zur Selbstorganisation. Nicht nur digital. Nicht nur analog.

Kleines Glossar zur digitalen Transformation:

[1] Analoge Ignoranz:Einseitiger Fokus auf die analog erlebte Realität bei Unkenntnis oder Missachtung gegenüber digitalen (sozialen) Medien, deren Möglichkeiten und Grenzen nicht überblickt werden.

[2] Collaboration: Die medienvermittelte, intensive, befristete Zusammenarbeit in übergreifenden Teams.

[3] Computational Thinking: Ein Problem erfassen, kontextsensitive digitale Lösungen konzipieren und mit dem Einsatz digitaler Mittel konkrete Maßnahmen der Problemlösung umsetzen.

[4] Co-Working Space: Gemeinschaftsraum mit temporär gemieteten Arbeitsplätzen als Ort der Begegnung, der gemeinsamen Arbeiten und des Teilens von Wissen und Erfahrungen.

[5] Digital-analoge Realität: Zusammenspiel von digitalen und analogen Realitäten, das in der erlebten Wirklichkeit zu digitalisierten sozialen Prozessen bewirkt.

[6] Digitale Demenz: Verfall mentaler und sozialer Kompetenzen durch übermäßige Nutzung digitaler Medien, wobei Wissen weniger gut erworben/behalten und alltägliche Verhaltensmuster nicht mehr angewandt werden.

[7] Digital Literacy: Souveräner Umgang mit Möglichkeiten und Grenzen von digitalen Medien in verschiedenen (medienvermittelten) Kontexten.

[8] Digital Reputation: Das Ansehen eines Menschen oder einer Organisation, das gespeist wird von der Reputation in sozialen Netzwerken und den im Internet zugänglichen Informationen.

[9] Open Knowledge Öffentlicher Zugang zur Wissensproduktion sowie freie Verfügbarkeit der dazu genutzten Informationsquellen und Ergebnissen zum eigenständigen Gebrauch.