Organisationen benötigen einen Purpose als das Handlungsregulativ. Dazu wird ein Orientierungsrahmen benötigt, mit dem im Berufsalltag gemachte Beobachtungen mit einer gemeinsam getragenen Bedeutung versehen werden können. Steht dabei das Generieren eines Wertebeitrages für die Gesellschaft im Fokus, wirkt bereits ein Purpose. Er wird in aufeinander verweisenden Kommunikationen immer wieder ausgehandelt. Dieses kommunikative Aushandeln verbindet individuelles und kollektives Denken, schafft eine gemeinschaftliche Sichtweise und lenkt die Aufmerksamkeit in bestimmte Bahnen. Eine Führungskraft kann die Formulierung eines Purpose mitgestalten, aber nicht vorgeben. Ihre kommunikativen Beiträge haben in dem Maße Gewicht, in dem die Beteiligten sie als vertrauenswürdig einstufen. Je glaubhafter jemand auf die Gemeinschaft achtet, desto vertrauenswürdiger wird er erlebt.
Eigenverantwortung
Das
in deutscher [1] und englischer [2] Sprache veröffentlichte Leipziger Führungsmodell
(LFM) setzt auf das verantwortlich handelnde Individuum, das sich in seinen
Entscheidungen zu bewähren hat. Dazu werden grundlegende Dimensionen einer
verlässlichen Orientierung für Entscheidungsträger benötigt, die in sich
verändernden Kontexten mit unterschiedlichen Gesprächspartnern zu agieren
haben. Genau das möchte das Modell bieten.
Der rote Faden des Modells lautet in etwa: Jeder Entscheider wirkt im
Rahmen einer Organisation(seinheit) als übergeordnetes Ganzes. Die
Funktionstüchtigkeit dieses Ganzen hat sich unter Wettbewerbsbedingungen
zu bewähren. Ihr Erfolg wird maßgeblich daran gemessen, inwiefern sie
Wertbeiträge für die Gesellschaft zu generieren vermag.
Handlungsleitende Idee des gesamten Modells ist Purpose.
Damit ist das gesamte deutschsprachige Begriffsfeld von Sinn, Zweck,
Bedeutung, Zielausrichtung etc. angesprochen. Es geht somit um die
Begründung dafür, dass eine Organisation für Dritte überhaupt von
Bedeutung ist. Dieser Pur-pose wird verstanden als eine motivierende,
gemeinsam getragene Antwort auf die Frage nach dem Zusammenspiel von
Arbeitsaufgabe, verfügbare Mittel zur Erreichung kurzfristiger Ziele
einer Zielhierarchie, an deren oberen Ende ein Endzweck steht. Dieser
Zweck begründet die Legitimation der Organisation(seinheit) gegenüber
der Gesellschaft durch den generierten Wertbeitrag für die Stakeholder
sowie zur Stabilität und Weiterentwicklung der Gesellschaft.
Das
Nachdenken über den letztendlichen Wertbeitrag und seiner Bedeutung bleibt ein
kontinuierlicher Prozess. Aus ihm erwachsen mit der Zeit handlungsleitende
Prinzipien, die eine Konsistenz des eigenen Tuns und Unterlassens fördern.
Daraus entwächst eine innere Haltung, die von den Interaktionspartnern als
Berechenbarkeit und Verlässlichkeit erlebt wird.
Organisationsinternes Beziehungsgefüge
Ein derart wirksamer Purpose kann eine Führungskraft kommunizieren
und vorleben. Aber vorschreiben kann eine Führungskraft diesen Purpose
unter keinen Umständen und keinem Bezugspunkt. Vielmehr entsteht der
Purpose in den organisationsinternen Beziehungsgefügen, in denen die
Prozessbeteiligten eingebunden sind.
In diesen kommunikativen Netzwerken werden immer wieder neuartige und
variierende Formulierungen des Purpose angeboten. Der Einfluss jeder
gegenüber dem aktuellen Stand veränderten Formulierung hängt an der
Resonanz, die sie im Netzwerker hervorrufen. Diese Resonanz kann bis zu
einer vollkommenen Bestätigung bei den Prozessbeteiligten der
Wertschöpfung gehen und sogar von der Gesellschaft geteilt werden.
Insofern verknüpft der Gedanke des Purpose individuelles und kollektives
Denken und Handeln miteinander und ermöglicht eine gemeinsame
Ausrichtung.
Purpose
kann man also verstehen als gemeinsame Antwort auf die Beitragsfrage, die eine
gemeinsam geteilte Interpretationen der generierten Beiträge für
gesellschaftliche Gruppen und für die Gemeinschaft ermöglicht. Die Bewertung
einzelner Beiträge erfolgt dann in Bezug auf als legitim angesehene Erfolgsindikatoren.
Ein so verstandener Purpose verbindet die Projekt- bzw. Prozessbeteiligten mit
den Stakeholdern und der Gesellschaft. Der Existenzgrund der Organisation hat
dann neben unternehmerischen Argumenten zusätzlich ethische politische
Legitimationen des gesellschaftlichen Umfeldes. Das sichert die langfristige
Existenz des Unternehmens.
Umwelt, Organisation und Management
Das in deutscher [5] und englischer [6] Sprache veröffentlichte St.
Galler Management-Modell (SGMM) geht von einem Zusammenwirken von
Umwelt, Organisation und Management aus. Das Modell beschreibt Prozesse
der verteilten Wertschöpfung mit Facetten aus der traditionellen Betriebswirtschaftslehre, der insbesondere in englischen Raum verbreiteten Praxistheorie und der Theorie sozialer Systeme.
Grundsätzlich wird dabei in einer Aufgabenperspektive die aus Sicht der
Betriebswirtschaftslehre fachinhaltlich zweckmäßige Bearbeitung von
Aufgaben und Problemen der Wertschöpfung in dem Zusammenspiel von
Umwelt, Organisation und Management dargelegt. Anschließen werden in
einer Praxisperspektive aus Sicht der Praxistheorie und der Theorie
sozialer Systeme wesentliche Voraussetzungen dafür aufgezeigt, dass sich
ein wirksames und verantwortungsbewusstes Management zur Aufgaben- und
Problembewältigung überhaupt entfalten kann.
Auch
das SGMM thematisiert das deutschsprachige Begriffsfeld von Sinn, Zweck,
Bedeutung und Zielausrichtung. Auch hier wird davon ausgegangen, dass es ein
gemeinsam getragenes Verständnis gibt vom Zusammenhang von Arbeitsaufgabe,
verfügbare Mittel zur Erreichung kurzfristiger Ziele und eines langfristigen
Zwecks steht. Auch hier begründet das Generieren von Nutzen die Legitimation
der Organisation(seinheit) gegenüber der Gesellschaft.
Kommunikative Netzwerke
Verortet wird diese Thematik in einem Orientierungsrahmen innerhalb
der Praxisperspektive. Es geht ausdrücklich um das, was der
organisationalen Wertschöpfung und ihrer Weiterentwicklung Kohärenz und
Ausrichtung verschafft: Eine effiziente Koordination der Alltagsroutine,
die Schaffung von Voraussetzungen für den zukünftigen Erfolg und das
Wahrnehmen von gesellschaftlicher Verantwortung. Dieser
Orientierungsrahmen wirkt als verbindliches und verbindendes Sinn- und
Orientierungsgerüst einer Organisation(seinheit). Die Anwendung dieses
Gerüsts ermöglicht den Organisationsmitgliedern das Schaffen gemeinsam
geteilter Interpretationen des Generierens von Beiträgen für
gesellschaftliche Gruppen und für die Gemeinschaft; genau das ist der
Purpose. Er wird in den organisationsinternen Kommunikations- und
Beziehungsgefügen formuliert, in denen die Organisationsmitglieder
eingebunden sind.
Entlang der zu verantwortenden Wertschöpfungsketten und -prozesse
bedarf es aufeinander abgestimmter Kommunikationen zum Treffen von
Entscheidungen und ihrer organisationalen Verbreitung. Kernoperation einer Organisation ist somit Kommunikation in/von Entscheidungen;
hierbei verweisen die einzelnen Kommunikationen/Entscheidungen stets
auf bereits früher getätigte Kommunikationen/Entscheidungen, führen sie
thematisch weiter und sind selbst immer auch Anknüpfungspunkte für
später erfolgende Kommunikationen/Entscheidungen.
In diesen kommunikativen Netzwerken werden immer wieder neuartige und
variierende Formulierungen des Purpose angeboten. Es kommt zum Sensemaking,
zu kommunikativen Prozessen der alltäglichen Sinnkonstruktion ([7], S.
45ff.). In Kommunikationsprozessen werden Sinnbezüge zwischen
Sachzusammenhängen und Erfolgsindikatoren angeboten und teils
übernommen, teils verändert und teils verworfen. Die Wirkung einzelner
Kommunikationsbeiträge hängt an der Resonanz, die sie im Netzwerker
hervorrufen. Dies kann von totaler Ablehnung über Ignoranz bis zu einer
vollkommenen Bestätigung bei den Prozessbeteiligten der Wertschöpfung
gehen und sogar von der Gesellschaft geteilt werden.
Organisationen sind soziale Systeme
Organisationen bestehen somit im Kern aus einem Netzwerk von
einzelnen aufeinander verweisenden Kommunikationen in/von
Entscheidungen. Da dies das Kennzeichen von sozialen Systemen ist, sind
Organisation(seinheiten) als soziale Systeme zu verstehen. Sie bestehen
aus Kommunikationen in /von Entscheidungen, die aufeinander verweisen.
Keine dieser Entscheidungen wird in einem leeren, kontextlosen Raum
getroffen. Vielmehr wirken Kommunikationswege (Reportingstrukturen oder Linien), Personen (Quellen und Adressaten von Kommunikationen) und Programme (Entscheidungen über Ziele und Vorgehensweisen) als von den Akteuren entscheidbare Entscheidungsprämissen. [4]
Diese Entscheidungsprämissen beeinflussen sich wechselseitig: Für eine optimierte verteilte Wertschöpfung (Zweckprogramm) bedarf es ausreichend definierte Geschäftsprozesse (Konditionalprogramme). Dafür werden passend ausgebildete, erfahrene Verantwortliche (Personen)
rekrutiert. Prozessverantwortliche, Geschäftsbereichsleitungen und
Unternehmensleitung benötigen einen geregelten Austausch an Daten und
Mitteilungen (Kommunikationswege), um weiterhin Entscheidungen über die Weiterentwicklung der internen, oft verteilten Wertschöpfung herbeiführen zu können.
Making Sense of Purpose
Schon Weick [8] hat in seinen organisationstheoretischen Arbeiten das Konzept des Sensemaking
dargelegt. Grundsätzlich handelt es sich hierbei um einen
kommunikativen Prozess, bei dem die Prozessbeteiligten sich über aktuell
beobachtete Ereignisse austauschen, Bezüge zu früheren Erfahrungen
besprechen, dazu passende Erklärungen formulieren, so eine
gemeinschaftliche Sichtweise bewirken und ihre Aufmerksamkeit in
bestimmte Bahnen lenken. Das als „plausibel“ eingestufte
kommunikativ ausgehandelte Verknüpfen der aktuellen Beobachtungen mit
den früheren Erfahrungen erzeugt eine gemeinsam geteilte Bedeutung, die
auch als genügende Erklärung dient und oft auch als Begründung für das
weitere Tun oder Unterlassen herangezogen wird.
Organisationen
bestehen somit im Kern aus einem Netzwerk von einzelnen aufeinander
verweisenden Kommunikationen, in denen immer wieder ausgehandelt wird, was
sinnvoller Weise nun zu tun ist um warum es zweckdienlich ist. Dieses
kommunikative Aushandeln verbindet individuelles und kollektives Denken und
Handeln so miteinander, dass eine gemeinsame Ausrichtung des Denkens, Urteilens
und Handelns möglich wird. Dies gilt auch hinsichtlich der Bewertung der
generierten Beiträge im Rahmen der Wertschöpfung mit Bezug auf als legitim
angesehene Erfolgsindikatoren. Der Existenzgrund einer Organisation(seinheit)
wird dann sowohl durch ökonomische Argumente als auch durch ethische und
politische Legitimationen des gesellschaftlichen Umfeldes gestützt.
Einschätzen von Vertrauenswürdigkeit
Führungskräfte können die organisationsinternen Netzwerke und die
darin behandelten Themen und Formulierungen mitgestalten, aber nicht
vorgeben oder gar vollkommen steuern. Eine Führungskraft ist weder
vollkommen machtlos noch allmächtig. Ihre kommunikativen Beiträge haben
in dem Maße Gewicht, in dem die Beteiligten ihr eine erlebte
Vertrauenswürdigkeit zuordnen.
Gemäß der Formel für Vertrauenswürdigkeit [3] geht es um das Maß der zugeordneten Glaubwürdigkeit (spricht aus, was als wahr überprüfbar ist), Zuverlässigkeit (hält sich an Absprachen), Zugewandtheit
(zeigt Interesse und Wertschätzung) und Selbstorientierung (verfolgt
eigene Ziele). Eine Führungskraft, die von den Kommunikationspartnern
aufgrund eigener Erfahrungen als glaubwürdig, zuverlässig, zugewandt und
wenig selbstorientiert eingestuft wird, bewirkt mit ihren
Kommunikationen weitaus wirksamere Resonanzen als Führungskräfte, die
als wenig glaubwürdig, kaum zuverlässig, wenig zugewandt und sehr
selbstorientiert erlebt werden.
So
schlagwortartig diese Formel auch sei, sie liefert doch erste Anhaltspunkte. So
kann man durchaus einmal konkrete, als angemessen erlebte Zahlen einsetzen. Eine
geläufige Skale dafür wäre von 1 bis 10, wobei eine 10 mit „viel davon“ zu
übersetzen ist. Ein ganz praktischer Versuch kann erste Klarheiten geben: Wie
vertrauenswürdig ist mein Chef? Wie vertrauenswürdig mag ich ihm erscheinen?
Die genaue Formel der Vertrauenswürdigkeit lautet: (Glaubwürdigkeit + Zuverlässigkeit + Zugewandtheit) : Selbstorientierung. Nehmen wir beispielhaft (8 + 7 + 6) : 2 = 7. So weit so gut. Wenn nun der Nenner nur um einen Punkt höher angenommen wird, ergibt sich (8 + 7 + 6) : 4 = 5, 25.
Das Maß der zugeordneten (nicht: tatsächlichen!) Selbstorientierung
gibt also den Ausschlag in der Formel der Vertrauenswürdigkeit. Mit
andern Worten: Je glaubhafter jemand auf die Gemeinschaft achtet, desto
vertrauenswürdiger wird er erlebt. Erneut ergibt sich: Purpose makes
Sense!
.
[1] HHL Leipzig Graduate School of Management (Hrsg.) (2017): Das
Leipziger Führungsmodell/The Leipzig Leadership Model, 2. überarb. u.
erw. Aufl., Leipzig: HHL Academic Press
[2] Kirchgeorg,
Manfred; Meynhardt, Timo; Pinkwart Andreas; Suchanek Andreas; Zülch Henning
(2019): Das Leipziger Führungsmodell: Führen und beitragen, 3. verb. Aufl.,
Leipzig: HHL Academic Press
[3] Maister, David H.; Green, Charles H.; Galford, Robert M. (2001): The
Trusted Advisor, Simon and Schuster: New York
[4] Luhmann, Niklas (2000): Organisation und Entscheidung, VS
Verlag: Wiesbaden.
[5] Rüegg-Stürm,
Johannes/Grand, Simon (2019): Das St. Galler Management-Modell. Management in
einer komplexen Welt. Haupt: Bern
[6] Rüegg-Stürm, Johannes; Grand, Simon (2019): Managing in a Complex
World. The St. Gallen Management Model. Haupt: Bern.
[7] Rüegg-Stürm,
Johannes; Grand, Simon (2015): Das St. Galler Management-Modell, 2. völlst.
überarb. u. grundl. weiterentw. Aufl., Haupt: Bern.
[8] Weick, Karl E. (1995): Sensemaking in organizations. Thousand Oaks,
CA: Sage.