Corona-Shutdown ist, wenn das Tempo der digitalen Transformation Fahrt aufnimmt und home office sowie Kollaborationstools im alltäglichen Leben stark an Bedeutung gewinnen. Doch das sehen viele nicht.
Der flüchtige Blick auf die Oberfläche
Für viele bedeutet Corona-Shutdown lediglich, dass die Bewegungsfreiheit und die Freiheit zu Sozialkontakten staatlicherseits extrem eingeschränkt ist und niemand weiß, wie lange das anhalten wird. Das gesellschaftliche und das wirtschaftliche Leben verlieren an Dynamik und Schnelllebigkeit. Es kommt zu Verlusten an Wohlbefinden und an Wohlstand. Doch das ist nur die Oberfläche. Darunter ereignen sich Entwicklungen, die in der digitalen Transformation ihren gemeinsamen Nenner haben. Davon zeugt auch der aktuelle Entwurf des EU-Rates zur Gestaltung der digitalen Zukunft Europas. In ihm heißt es u. a. , dass Bereiche wie „e-Health, digitale Bildung, e-Government, Datenaustausch und Breitbandkonnektivität“ eine besondere Aufmerksamkeit erhalten sollten.
Soziale Interaktion im Wandel
Das Corona-Virus kann bislang nur dadurch eingedämmt werden, dass einige bisher in der Gesellschaft akzeptierte Verhaltensmuster für bislang unbestimmte Zeit geändert werden. Wir haben also unsere gewohnten persönlichen Interaktionen als Gesellschaft zu verändern. Das gilt auch für den Bildungsbereich, der auf lokaler, regionaler und globaler Ebene bislang stark auf persönlichen Beziehungen aufbaut.
Auch akademische Hochschulen haben zu überlegen, wie sie die Art und Weise, in der Lehrende, Lernende und Administrierende miteinander interagieren und zusammenarbeiten können (wollen). Dabei wird die Anwendung moderner Technologien im Vordergrund stehen. Das allein wird die Pandemie nicht beenden können. Vielmehr hilft es den beteiligten Personen und den Institutionen, sich auf die veränderten Rahmenbedingungen einzustellen.
Ein beispielhafter Blick unter die Oberfläche
Akademische Hochschulen sind massiv vom Corona-Shutdown betroffen. Für Österreich gilt gemäß dem Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Forschung (1), dass an Hochschulen der Lehrbetrieb noch längere Zeit geschlossen und der Forschungsbetrieb aufrecht erhalten bleibt. Demgemäß haben die Hochschulen zwischen dem 9. und dem 16. März ihren Lehrbetrieb auf Distance Learning/Teaching umgestellt und anstehende Prüfungen an bestehende digitale Rahmenbedingungen angepasst.
Was so leicht und locker zu lesen ist, hat es in sich: Schon Aristoteles wusste, dass das Ganze etwas grundsätzlich anderes ist als die Summe seiner Teile. Angewandt auf Distance Learning bedeutet dies: Distance Learning ist etwas grundlegend anderes als die Summe der Komponenten, die für mobile Learning nötig sind. Es sind gerade die unterschiedlichsten Beziehungen zwischen den nötigen Komponenten, die das Neuartige des Distance Learning ausmachen. Fast alle dieser Beziehungen stehen in einem Zusammenhang mit der das gesellschaftliche Zusammenleben grundlegend verändernden digitalen Transformation. Sie verändert jetzt den Wirkungskreis eines Hochschullehrers in einem bislang nicht gekannten Tempo.
Digitale Veränderungen in der (Aus)Bildung
Während Bildung eher zweckfrei verstanden wird, ist Ausbildung eher auf mehr oder minder konkreten Nutzerwartungen bezogen. Bei beiden geht es um ein curricular gesteuertes Lernen mit kanonischen Inhalten und didaktische Formen. Es geht letztlich darum, hinterher etwas zu kennen und zu können, wozu man vorher nicht in der Lage war. Der zentrale Referenzpunkt von Bildung ist letztlich die individuelle Teilhabe an der Gesellschaft. Dem gegenüber ist der zentrale Referenzpunkt von Ausbildung letztlich die berufliche Verwertbarkeit.
Akademische Hochschulen sollen beides im Blick halten, indem sie in der Regel mit promoviertem Personal Lehre und Forschung auf wissenschaftlicher Grundlage mit anwendungsorientiertem Schwerpunkt anbieten.
Akademische Lehrangebote und die diesbezüglichen administrativen Abstimmungen erfolgen in der Corona-Krise fast ausschließlich über eine medienvermittelte, intensive, befristete Zusammenarbeit in übergreifenden Teams [2]. Für Studierende, Lehrende und Administrierende geht es verstärkt darum, Problemstellungen zu erfassen, mit digitalen Mitteln dafür kontextsensitive digitale Lösungen zu konzipieren und diese in konkrete Maßnahmen umzusetzen [3]. Die Fähigkeiten des souveränen Umgangs mit Möglichkeiten und Grenzen von digitalen Medien in verschiedenen (medienvermittelten) Kontexten [7] bekommt die Bedeutung einer zentralen Kompetenz. Das Ansehen einer Person oder einer Organisation wird aktuell maßgeblich gespeist von ihrer Reputation in sozialen Netzwerken und den im Internet über sie zugänglichen Informationen [8].
Absehbare Entwicklungslinien
Es steht zu erwarten, dass im postcorona Zeitalter auch in Hochschulen die Nutzung bzw. die Bereitstellung von Gemeinschaftsräumen mit temporären (gemieteten?), mit digitalen Medien ausgestatteten Arbeitsplätzen zunehmen wird. Sie werden für Hochschullehrer und externe Dozenten als Ort der Begegnung, des miteinander Arbeitens sowie des Teilens von Wissen und Erfahrungen erlebt werden [4]. Das Zusammenwirken von digitalen und analogen Realitäten wird verstärkt zu medienvermittelten sozialen Prozessen führen [5] und einen verstärkten öffentlichen Zugang zur Wissensproduktion sowie der dazu genutzten Informationsquellen und Ergebnissen mit sich bringen [9].
Was bedeuten diese Entwicklungslinien für die akademische Lehre, die ein Hochschullehrer herzuleiten, abzuhalten und abzuprüfen hat? Einerseits ist ein einseitiger Fokus auf die analog erlebte Realität bei Unkenntnis oder Missachtung der digitalen (sozialen) Medien mit ihren Möglichkeiten und Grenzen [1] keinesfalls nützlich, denn damit würde das Reservoir an Wissensquellen unnötig eingeschränkt. Andererseits ist einem Verfall mentaler und sozialer Kompetenzen durch übermäßige Nutzung digitaler Medien zu vermeiden, da ansonsten Wissen weniger gut erworben/behalten und alltägliche Verhaltensmuster nicht mehr angewandt werden würden [6].
Der Weg in die Zukunft
Der robuste Weg in die Zukunft des akademischen Lehrbetriebs führt zwischen analoger Ignoranz [1] und digitaler Demenz [6]. Hochschullehrern, Studierenden und Administrierenden wird wohl ein erhöhtes Maß an Selbstdisziplin und Durchhaltevermögen abverlangt werden. Selbstdisziplin wird z. B. benötigt für die bewusstere Konzentration auf den jeweiligen Arbeitsmodus (digital oder analog). Durchhaltevermögen wird benötigt, um z. B. Irritationen und Herausforderungen der digitalen und der analogen Welt zu meistern und so in der digital-analogen Realität [5] zu bestehen.
Auch wenn es viele sehen (wollen): Das Tempo der digitalen Transformation hat Fahrt aufgenommen. Home office ist allgemein akzeptiert. Kommunikations- und Kollaborationstools sind aus dem alltäglichen Leben kaum noch wegzudenken. Die Bewegungsfreiheit und die Freiheit zu Sozialkontakten werden irgendwann nicht mehr eingeschränkt sein. Wohlbefinden und an Wohlstand werden wieder steigen. Aber ein Zurück zur Vor-Corona-Zeit wird nicht mehr gelingen Ein weiter so wie bisher wird unmöglich bleiben.
Für die weitere Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und am beruflichen Gelderwerb werden wir für unser eigenverantwortliches Tun keinesfalls nur veränderte kognitive Fähigkeiten benötigen. Nötig ist immer mehr die Fähigkeit zu Selbstreflexion und zur Selbstorganisation. Nicht nur digital. Nicht nur analog.
Kleines Glossar zur digitalen Transformation:
[1] Analoge Ignoranz:Einseitiger Fokus auf die analog erlebte Realität bei Unkenntnis oder Missachtung gegenüber digitalen (sozialen) Medien, deren Möglichkeiten und Grenzen nicht überblickt werden.
[2] Collaboration: Die medienvermittelte, intensive, befristete Zusammenarbeit in übergreifenden Teams.
[3] Computational Thinking: Ein Problem erfassen, kontextsensitive digitale Lösungen konzipieren und mit dem Einsatz digitaler Mittel konkrete Maßnahmen der Problemlösung umsetzen.
[4] Co-Working Space: Gemeinschaftsraum mit temporär gemieteten Arbeitsplätzen als Ort der Begegnung, der gemeinsamen Arbeiten und des Teilens von Wissen und Erfahrungen.
[5] Digital-analoge Realität: Zusammenspiel von digitalen und analogen Realitäten, das in der erlebten Wirklichkeit zu digitalisierten sozialen Prozessen bewirkt.
[6] Digitale Demenz: Verfall mentaler und sozialer Kompetenzen durch übermäßige Nutzung digitaler Medien, wobei Wissen weniger gut erworben/behalten und alltägliche Verhaltensmuster nicht mehr angewandt werden.
[7] Digital Literacy: Souveräner Umgang mit Möglichkeiten und Grenzen von digitalen Medien in verschiedenen (medienvermittelten) Kontexten.
[8] Digital Reputation: Das Ansehen eines Menschen oder einer Organisation, das gespeist wird von der Reputation in sozialen Netzwerken und den im Internet zugänglichen Informationen.
[9] Open Knowledge Öffentlicher Zugang zur Wissensproduktion sowie freie Verfügbarkeit der dazu genutzten Informationsquellen und Ergebnissen zum eigenständigen Gebrauch.