Theorieorientierte Praxis und praxisorientierte Theorie

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Theorieorientierte Praxis und praxisorientierte Theorie

Praktisches Tun ist auch ein Ausfluss vorherigen Denkens und abstrahierende Reflexion bezieht sich stets auch auf das konkrete Umsetzen in der Praxis. Erfolgsversprechend ist also eine reflektierte Handlungsorientierung, die gegebene Rahmenbedingungen beachtet und dient einem zweckdienlich ist (Fit for Purpose?)

Insofern sind Praxis und Theorie zwei Schwestern, die sich eigentlich gut vertragen könnten. Eigentlich. Praktikern und Pragmatikern und bleibt diese gute Verträglichkeit verborgen. Sie richten ihr Tun an bekannten(!) situativen Gegebenheiten aus und stellen das praktische Handeln über die theoretische Vernunft. Sie benutzen eine Theorie nur dann, wenn ihre praktischen Konsequenzen zu dem von ihnen erwünschten Ziel führen. Das nennen Sie dann „Praxisorientierung“ und meinen damit eine möglichst große Zielerreichung, ohne sich dabei um (zumindest kurzfristig) unveränderliche Prinzipien zu kümmern.

Konkrete Handlungsorientierung

Praktiker und Pragmatiker orientieren sich eher an konkretisierenden Handlungen, die vornehmlich zur Realisierung von erwünschten Ergebnissen vollzogen werden. Sie bemühen sich daher kaum um grundlegende Gesetzmäßigkeiten, die anderen Gesetzmäßigkeiten übergeordnet sind. Ein eingefleischter Praktiker hält sich vornehmlich an die selbst erlebte Praxis, die er jeder Theorie vorzieht. Ein Pragmatiker hingegen ist jemand, der in der Praxis steht und dabei ziel- und lösungsorientiert denkt und handelt.

Praktiker und Pragmatiker können mit ihrem Vorgehen durchaus Erfolge erzielen. Aber sie können zumeist kaum erkennen, dass der Erfolg ihres Tuns von der Gültigkeit bestimmter Gegebenheiten abhängt, also kontextabhängig ist. Wenn das Problem darin besteht, das zwei Bauernsöhne eine Kuh erben, dann lautet die praxisorientierte Lösung: Jeder bekommt eine Hälfte der geerbten Kuh.

Abstrahierende (Selbst)Reflexion

Theoretiker hingegen orientieren sich an eigenen und dokumentierten fremden abstrahierenden Denkvorgängen, die vornehmlich zum Aufbau von Erkenntnissen vollzogen werden. Die Gültigkeit der dabei abgeleiteten Erkenntnisse sind ebenfalls abhängig von der Existenz und der Wirkung des jeweiligen Kontextes. Aber nützliche und verunmöglichende Kontexte werden mit in die Überlegungen einbezogen! Wenn das Problem darin besteht, das zwei Bauernsöhne eine Kuh erben, dann lautet die theorieorientierte Lösung: Die Aufteilung von Kosten und Nutzen erfolgt zu gleichen Teilen. So kann man die Kuh zerteilen, dann hat man kurzfristig ein Ergebnis. Ebenso gut kann man aber langfristig denken, sich Aufwände und Erträge teilen und die Kuh melken und kalben lassen; damit ergeben sich viele Möglichkeiten, von denen die meisten einen höheren Gesamtnutzen erwarten lassen als die reinpraxisorientierte Lösung.

Reflektierte Handlungsorientierung

In der Praxis werden konkrete Ergebnisse erzielt, indem Handlungen aus der Menge der an sich möglichen Handlungen in begründeter ausgewählt und vollzogen werden. Die Menge der Möglichkeiten und die Begründbarkeit werden allerding durch theorieorientierte Erkenntnisse deutlich verbessert. Weil dies so ist, sind und bleiben die Praxis und die Theorie zwei Schwestern, die sich gut vertragen!

Zur Dokumentation der Denkoperationen, die eine Anwendungsorientierung von anderem unterscheiden und sie als den Unterschied reproduzieren, den Anwendungsorientierung macht, verwende ich die Notation des Formkalküls von George Spencer-Brown [1]. Mit ihr kann ich die (kognitiven) Unterscheidungen anschreiben, die ich als Beobachter meiner Gedanken getroffen habe um Zustände zu bezeichnen, die ich von anderen Zuständen unterscheide. Die obigen Notationen mit dem Formkalkül sind folgendermaßen zu lesen:

Die Anwenderorientierung

1)  unterscheidet zwischen Praxis und Theorie

2)  bedarf des wechselseitigen Bezugs von Praxis und Theorie

3)  versteht praktische Handlungen als Ausfluss von Theorie und bezieht Theorie stets auf die konkrete Umsetzung in der Praxis

4)  jede reflektierte Handlungsorientierung hat gegebene Rahmenbedingungen zu beachten und dient einem Zweck

Kurzum: Theorieorientierte Praxis und praxisorientierte Theorie sind zwei sich gut vertragende Schwestern! Beide kommen immer zusammen zu Besuch.

Anwendungsorientierte Hochschulen

Genau hier knüpfen denn auch Studienangebote von anwendungsorientierten akademischen Hochschulen an. Sie orientieren sich stärker als Universitäten an den Problemstellungen der (beruflichen) Praxis. Anwendungsorientierte Studienangebote bieten vielfältige Gelegenheiten zum Ausbau der Fähigkeit, verfügbare theoretische Inhalte gemäß ihrer Zweckdienlichkeit in der Praxis des Berufsalltags nutzbar zu machen. Eigene und fremde praktische Handlungen werden im Verbund mit theoretischen Erkenntnissen ziel- und lösungsorientiert konkret angewandt.

Anwendungsorientierte Studienangebote sind im Kern ein Bemühen darum, die Sinnhaftigkeit der vermittelten theoretisch begründeten Inhalte und ihre mitunter komplexen Wechselwirkungen zueinander begreifbar und diesbezüglich hilfreiche Methoden konkret im Einzelfall anwendbar werden zu lassen. Genau dafür aber braucht es einen permanenten Austausch in der direkten Begegnung auf dem Marktplatz der Meinungen, Interessen und Erkenntnissen (Agora).

Anwendungsorientierte akademische Lehre

Die anwendungsorientierte akademische Lehre ist etwas grundständig Anderes als das bloße Bereitstellen vorformatierter digitaler Lern-Units, die schön voneinander getrennt je nach aktuellem Bedarf und derzeitigem Zahlungsvermögen auf digitalen Plattformen adressiert und abgerufen werden können. Das scheitert neben dem direkten Erleben schon daran, dass sich Probleme in der Praxis in keinster Weise an Trennungen des menschlichen Geistes orientieren.

 

In der anwendungsorientierten akademischen Lehre geht es um das begründete Generieren zweckdienlicher Handlungen und Entscheidungen zwischen „Logik und Psycho­Logik“. In ergebnisoffenen Formen der (moderierten) Koordination von Einzelbeiträgen gilt es, Lösungswege für Praxisprobleme zu erkunden. Orientiert am jeweiligen Ziel sind mögliche Handlungsweisen zu erarbeiten und anhand erwartbarer Erfolgswirkungen zu beurteilen.

 

Quantitatives Denken

Anwendungsorientierte Lehrangebote bereiten hilfreiche verfügbare Zahlen sinnerfassend und adressatenorientiert auf und arbeiten ihre problemwirksame Bedeutung für den praktischen Erfolg heraus. Vielfach sind verfügbare Informationen unscharf und/oder unsicher. Daher ist oftmals statt einer optimalen Lösung ein zufriedenstellendes Vorgehen (Satisficing) anzustreben, das möglichst viele der zu Anfang formulierten Ansprüche befriedig.

 

Durch dieses grundlegende Vorgehen wird die anwendungsorientierte akademische Lehre auf eine begründete Basis gestellt und dabei zugleich die Rationalitätsdefizite im Vorgehen begrenzt, die aufgrund bestehender kognitiver Grenzen und der Tendenz zu Opportunismus der Teilnehmenden kaum zu vermeiden sind. Es wird in Zukunft immer stärker darauf ankommen, Standards in der Interpretation von Zahlen, Daten und Informationen zu entwickeln, über die in Zeiten der permanenten Veränderungen flexibel und verlässlich mit internen und externen Stakeholdern vertrauensfördernd kommuniziert werden kann.

 

Erfolgsformate der direkten Begegnung

Eine anwendungsorientierte akademische Lehre hat zu beachten, dass die meisten Erfolgsformate in der direkten Begegnung stattfinden. Direkte soziale Interaktion und wechselseitiges Irritieren ist ein gemeinsamer Nenner von kurzen Lerneinheiten durch Barometer, Brand Sprints, Brainwarming, Buzz-Groups (“Flüstergruppen”), Draw Toast, Fermieren, Fishbowl, Five-to-Fold, Genuine Contact, Gruppenpuzzle (“Jigsaw-Methode“), Kugellager, Marktplatz, Pro-Contra-Debatte, Stationengespräche, Take home message / Kernsätze, Wicked Question Game. Für längere Methoden wie After Action Review, Appreciative Inquiry, Art of Hosting, Design Thinking, Dragon Dreaming, Dynamic Facilitation, Open Space, Thinking Environment bzw. Thinking Circle, Wisdom Council, World Café oder Zukunftswerkstatt gilt das Gleiche.

 

Eine wirksame anwendungsorientierte akademische Lehre ist ein Angebot zum Erleben eines Ereignisses, das sich vom Alltag so sehr unterscheidet, dass es lange im Gedächtnis bleibt. Dabei geht es immer auch um das Faszinosum des Haptischen: Begreifen (= Verständnis) ist ohne das Begreifen (Berührtwerden) kaum möglich, zumindest keinesfalls erleichtert. Das physische Zusammensetzen fördert das geistige Auseinandersetzen mit einem Thema, einer Aufgabe oder einer Problemstellung.

 

Digitale Lehre hat Grenzen

Die anwendungsorientierte akademische Lehre darf nicht durch eine instrumentelle Digitalisierung zu einer digitalen Plattform des Bereitstellens von vorformatierten Lern-Units verkommen, die voneinander getrennt angeboten werden. Das würde die feinen Unterschiede zwischen durchschnittliche Lerneinheiten einerseits und tiefenwirksamer, faszinierender Lehre vollkommen missachten.

 

Eine gute anwendungsorientierte akademische Lehre benötigt durchgehend die Chance, spontan zu reagieren, wenn man in ratlose oder gar gleichgültige Gesichter sieht. Sie wird durch die Modulations-Möglichkeiten der Stimme des Lehrenden gefördert, die bei digitaler Übertragung unmöglich ist oder zumindest grotesk verzerrt erfolgt. Sie benötigt durchgehend Möglichkeiten, aus dem aktuellen Geschehen heraus sinnvolle Pausen zu setzen. So kann sich der Lehrstoff setzen und aus einem Informationswirbel allmählich Substanz werden. Arbeiten Menschen gemeinsam an relevanten Fragen oder Aufgabenstellungen, entstehen neues Wissen und Ideen besonders leicht. Der Wert und die Wirkung des Lernens in der direkten Begegnung werden von denen verkannt, die verstärkt auf digitale Lehrformen setzen!

Zusammenfassung

Die Praxis und die Theorie sind zwei Schwestern, die sich gut miteinander vertragen. Reine Praktiker können durchaus Erfolge erzielen. Aber sie können die Kontextabhängigkeit ihres Tuns nicht erkennen. Dazu ist abstrahierendes Denken nötig, in dem u.a. auch nützliche und verunmöglichende Kontexte mit einbezogen werden. Eine gute anwendungsorientierte akademische Lehre berücksichtigt dies und bemüht sich um Lernerlebnisse, die erlebbare Ereignisse sind. Sie bleiben im Gedächtnis, weil sie sich vom Alltag sehr unterscheiden. Es geht um Begreifen (= Verständnis) durch Begreifen (Berührtwerden), um physisches Zusammensetzen zur Förderung des geistigen Auseinandersetzens. Weil das nicht mit dem Konsum von Facebook geht, sondern das Erleben von Face to Face bedarf, sollte die anwendungsorientierte akademische Lehre keinesfalls verstärkt auf digitale Lehrformen setzen!

[1]  Spencer-Brown, G. (1969): Laws of Form, London: Allen & Unwin. Erläuternd dazu Schönwälder-Kuntze, T./Wille, K./Hölscher, Th.( 2009): George Spencer Brown. Eine Einführung in die “Laws of Form”, 2., überarb. Aufl., Wiesbaden: VS Verlag.

 

Veröffentlicht in Formen, Kommunikation.

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