Unentscheidbares entscheiden

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Unentscheidbares entscheiden

Entscheidungen sind oft unangenehm, weil keine der gefundenen Lösungsalternativen nachweislich richtig ist. Oft werden Entscheidungen in Gruppen getroffen und niemand darf sich damit blamieren, sich womöglich falsch festgelegt zu haben. Was tun?

Mit dem Tetralemma werden kontrovers diskutierte alternative Meinungen, Haltungen und Entscheidungen sinnvoll abgewogen, um neuartige Ideen für eine gelingende Zukunft zu erkunden.

 

Beispielhafte Fragestellung

Sollen wir zukünftig die berufliche Weiterbildung vollkommen auf Distance Learning umstellen und diesbezügliche Lehr-Lern-Arrangements entwickeln und dazugehörige technische Infrastrukturen aufbauen? Oder sollen wir „nach Corona“ zum dem zurückkehren, was bis zum Lockdown des öffentlichen und wirtschaftlichen Lebens die Normalität der Weiterbildung war?

Auf diese Fragen gibt es keine einfach „richtige“ Antwort. Denn jede Antwort in die eine oder die andere Richtung lässt viele Kollateralschäden erwarten, die dauerhaft tragbar sein dürften. Tragfähige Antworten auf diese Frage entziehen sich der klassischen zweiwertigen Logik des Entweder/Oder und bedürfen der Erkundung eines dritten, vierten oder gar fünften Wertes.

 

Jenseits der traditionellen Logik

Das systemtheoretische Denken hilft bei der Beobachtung einer Problematik und bei der Herleitung möglicher Lösungsalternativen. Dabei werden die Expertise der Problemlöser und das Prozessverständnis des Beratenden zueinander in Beziehung gesetzt, um neuartige Erkenntnisse für das Management von (marktfähigen) Organisationen zu entwickeln.

In systemorientierten Beratungspraxis wird für unentscheidbare Fragen oft das Tetralemma als Reflexionsansatz [6] angewandt. Dabei werden im Kern verschiedene Perspektiven nacheinander reflektiert. Anhand bestimmter Fragen werden zusätzliche Möglichkeiten erkundet, die über die eine Variante und die andere Variante hinaus noch angedacht, akzeptiert und umgesetzt werden könnten.

 

Das Trilemma durchlaufen

Bei der Arbeit mit dem Trilemma werden folgende Arbeitsschritte durchlaufen:

1.  Zunächst wird der eine Lösungsvorschlag gut ausformuliert (die eine Variante). So könnte man die berufliche Weiterbildung auf Distance Learning umstellen, dafür geeignete Formate entwickeln und eine passende technische Infrastruktur aufbauen.

2.  Danach wird der andere Lösungsvorschlag in vergleichbarer Weise ausformuliert (die andere Variante). So könnte man später zur bekannten „normalen“ Weiterbildung zurückkehren.

3.  Nun werden Möglichkeiten der gleichzeitigen Verbindung guter Komponenten beider Varianten erkundet (beide Varianten zugleich). So könnte man z. B. standardisierte Grundlagen in modularen podcasts anbieten und spezielle Vertiefungen in Präsenztreffen einüben.

4.  Anschließend wird der implizit vorausgesetzte Kontext bedacht, der das Denken über das Problem und seiner Lösung beeinflusst (keine von beiden). Hierbeiden entstehen oft neuartige Sichtweisen und Überlegungen.

So könnte man erkennen, dass für die berufliche Weiterbildung von Führungskräften die Vermittlung von Inhalten weniger bedeutsam ist, als eine vertrauensvolle, partnerschaftliche Reflexion der erlebten Praxis aus der Sicht gleichwertiger und unterschiedlicher Bildungs- und Erfahrungshintergründen ([2] S. 254f.)

In vielen Fällen reichen diese Schritte aus, um die eigenen Gedanken zu ordnen, eigenen Gefühle zu erkennen eigene Positionen zu formulieren. Streng zu beachten ist allerdings, jedweden Kompromiss zu vermeiden. Sollte das dadurch erlangte Ergebnis nicht ausreichen, erfolgt Schritt 5:

5.  Es wird gefragt, mit welchen Gedankengängen die gewohnten Abgrenzungen und Unterscheidungen zwischen gut/schlecht, richtig/falsch, tragbar/untragbar und eben digital/analog veränderbar sind (das alles nicht). Dadurch ergibt sich ein offener Weg des Entwickelns bislang unbedachter Möglichkeiten des Durchdenkens der problematischen Situation. Das ist oftmals Gedanken, die man sich (aus den verschiedensten Gründen) bisher nicht erlaubt hat. Hier ist man ausdrücklich dazu eingeladen, solche Gedanken zuzulassen.

Wenn eine transferstarke berufliche Weiterbildung in erheblichem Maße auf gemeinsame Reflexionen der erlebten Praxis aus unterschiedlichen Sichtweisen aufbaut, dann braucht es methodischer Formate und räumliche Architekturen, die genau dafür zu entwickeln sind.

 

Das zusätzliche „X“

Oftmals ergeben die in den Schritten 3 und 4 skizzierten Positionen in ihrer Abwägung in Schritt 5 Anknüpfungspunkte für einen tragfähigen Weg in die Zukunft. Dies wird durch eine letzte Frage weiter gefördert, die auf Heidegger [2] zurückgeht: Was gilt es noch zu entbergen? (das „X“)

Das X steht für die grundsätzlich vorhandene eigendynamische Emergenz der Wirklichkeit. Daher sind alle verwendeten Unterscheidungen wie Kausalität/Zufall, dazu gehört dazu/gehört nicht dazu oder Trivialität/Nichttrivialität stets zu hinterfragen [1] und sich bewusst zu bleiben, dass jede hergeleitete Lösungsvariante keinesfalls eine ultimative Lösung sein kann [3].

So könnte man z.B. zukünftig bei der Beurteilung einer konkreten Weiterbildungsmaßnahme vollkommen von den erstellten Urkunden und Noten absehen und stattdessen die Resonanz beachten, die eine Teilnahme an der Maßnahme in der beruflichen Praxis hervorruft und dadurch einen erkennbaren Nutzen bewirkt.

 

Die Form der Problemlösung

Als Berater begleite ich solche Denkbewegungen anhand des Trilemmas. Daher benutzte ich die Notation des Formkalküls [5] als Notizen über Formen des Denkens hin zu einer Problemlösung.

Von rechts nach links sind die Komponenten zunehmend bestimmt und von links nach rechts zunehmend unbestimmt. Daher sind die Messgrößen links neben dem Gleichheitszeichen platziert und das Umfeld ganz rechts.

Die beiden recht gut bestimmbaren Lösungs-Varianten sind links neben dem Gleichheitszeichen positioniert. Bezieht man beide aufeinander, kommt etwas in den Sinn, was etwas darüber hinausreicht. Allerdings bleibt immer zu beachten, dass ein zusätzliches, noch nicht entdecktes und daher vollkommen unbestimmtes „X“ auf der rechten Seite auch noch existiert.

 

Gemeinsame Problemlösung

Das gedankliche Durchschreiten des vom Tetralemma aufgezeigten Weges legt die Prämissen, Interessen, Prinzipien und ethische Werte offen, die auf das Durchdenken einer Problematik und ihren Lösungsvarianten einwirken. In der Gruppe der Problemlöser kommt es beim Begehen dieses Weges zu einer kommunikativen Verständigung über die Problematik und über ihre Lösungsmöglichkeiten (Sensemaking [7]). Die bewusste Gestaltung solcher Prozesse ist der Erfolgsfaktor bei der Steuerung von arbeitsteiligen Wertschöpfungsprozessen [4].

 

Zusammenfassung

In Entscheidungsprozessen können mit dem Tetralemma kontrovers diskutierte Alternativen abgewogen und neue Ideen erkundet werden. Dabei werden auch der implizite Kontext des Denkens und die dabei gewohnheitsmäßig benutzen Denk- und Begründungsstrukturen berücksichtigt. Zugleich werden wirksame Prämissen, Interessen, Prinzipien und ethische Werte offengelegt, die auf das Erkunden einer Problematik und ihren Lösungsvarianten einwirken.

 

[1] Gutbrod A. (2010): Kommentar zur Systemischen Beratung anlässlich des Kongresses X-Orga-nisationen; in: OrganisationsEntwicklung 1/2010, S. 97-98

[2]  Heidegger, M. (1943): Vom Wesen der Wahrheit. Frankfurt a. M.: Klostermann

[3] Jumpertz, S./Bußmann, N. (2010): Aufbruch in die neue Gegenwart; in managerSeminare, 02/2010, S. 52 – 55

[4] Rüegg-Stürm, J./Grand, S. (2019): Das St. Galler Management-Modell. Management in einer komplexen Welt, Bern: Haupt

[5]  Spencer-Brown, G. (1969): Laws of Form, London: Allen & Unwin.

[6] Varga von Kibéd, M./Sparrer, I. (2003): Ganz im Gegenteil, Heidelberg: Carl-Auer.

[7] Weick, K. E. (1985): Der Prozess des Organisierens, Frankfurt am Main.

 

Veröffentlicht in Entscheidung, Formen.

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